Schweizer Studie stellt Frühfremdsprachen in Frage

 

Die Zürcher Wissenschafterin Simone Pfenninger kommt in ihrer fünfjährigen Langzeitstudie zu brisanten Ergebnissen bezüglich des Beginns des Fremdsprachenunterrichts. Wie viele Studien vor ihr bestätigt sie, dass ein früher Start kein Vorteil ist. Es kann sogar vorkommen, dass die Frühfremdsprachen das Erlernen der Erstsprache negativ beeinflussen. Die Arbeit von Pfenninger dürfte den Vertretern von nur einer Primarfremdsprache weiteren Aufwind geben.

 

Pfenninger: "Früher Fremdsprachenunterricht zahlt sich

 

weniger aus, als bis anhin angenommen.“

 

 

 

Wer in Deutsch gut ist, lernt besser Englisch

Medienmitteilung Universität Zürich, 10.12.14

 

Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr – besagt eine von zwei Behauptungen über das Fremdsprachenlernen, nämlich: je früher man gezielt eine Fremdsprache lernt, desto besser ist das sprachliche Niveau langfristig. Die zweite Auffassung geht davon aus, dass man in der Erstsprache gefestigt sein muss, um in der Fremdsprache eine gute Lese- und Schreibkompetenz aufzubauen. Diese beiden Behauptungen greift die Linguistin Simone Pfenninger von der Universität Zürich in ihrer 5-Jahres-Studie mit Schweizer Gymnasiasten auf. Sie eruiert das ideale Alter für das Lernen von Deutsch als Schriftsprache und Englisch als Fremdsprache.

 

Ihre jetzt daraus veröffentlichten Teilergebnisse belegen: Wer Deutsch gut liest und schreibt, kann diesen Vorteil ins Englische übertragen – und dies interessanterweise unabhängig vom Alter zu Lernbeginn der Fremdsprache oder dem biologischen Alter.

 

Die Studie zeigt ebenfalls, dass sich aus dem frühkindlichen Fremdsprachenunterricht keine kurz- oder langfristigen Vorteile ergeben – kurzfristig kann der frühe Fremdsprachen-unterricht die Erstsprache auch negativ beeinflussen.

 

 

Positive und negative Einflüsse des Deutschen aufs Englische erforscht

 

Während fünf Jahren hat die UZH-Wissenschaftlerin untersucht, inwiefern das Alter und die Kenntnisse in der Erstsprache bzw. im Hochdeutschen die Entwicklung von schriftlichen Englischkenntnissen beeinflussen. Um die Kompetenzen in Deutsch und Englisch zu messen, wurden 200 zufällig ausgewählte Gymnasiastinnen und Gymnasiasten im Kanton Zürich zu Beginn und gegen Ende ihrer obligatorischen Schulzeit auf der Oberstufe im Lesen und Schreiben getestet. Eine Gruppe hatte mit acht Jahren in der Primarschule mit dem Englischunterricht begonnen, während die zweite Gruppe erst mit dreizehn Jahren in der Sekundarstufe damit angefangen hatte.

 

Neben dem positiven Einfluss des Deutschen auf das Englische wurden auch die negativen Einflüsse bzw. die Übertragung erstsprachlicher Strukturen auf die Fremdsprache in den Bereichen Syntax und Morphologie untersucht. «Denn mit zunehmender Verwurzelung der Erstsprache könnte man auch einen zunehmenden Einfluss der Schriftsprache auf das Erlernen von Englisch erwarten», erklärt Simone Pfenninger.

 

Die Resultate zeigen: Der Fremdsprachenunterricht im früheren Alter wirkte sich weder kurz- noch langfristig vorteilhaft aus. Bereits nach sechs Monaten haben die Lernenden, die fünf Jahre später einstiegen, die Frühlernenden eingeholt und teilweise sogar übertroffen – dies punkto grammatikalische Korrektheit und Komplexität, Sprachfluss, Grammatikalitätsbeurteilung, sowie inhaltliche und strukturelle Aspekte des schriftlichen Ausdrucks.

 

Allerdings verfügten die Frühlernenden bei der ersten Datenerhebung über einen grösseren Wortschatz, und sie hatten weniger die Tendenz, ihre Lücken im Wortschatz der Fremdsprache durch sogenanntes Code-Switching ins Deutsche zu füllen. «Zum Zeitpunkt der zweiten Datenerhebung, kurz vor der Maturität, waren keine Unterschiede mehr bezüglich des frühen bzw. späten Einstiegs in den Fremdsprachenunterricht erkennbar», so Simone Pfenninger.

 

 

Spätlerner hatten bessere Deutschkenntnisse

 

Die für den frühen Fremdsprachenunterricht wenig ermutigenden Ergebnisse lassen sich gemäss der Studienautorin wie folgt erklären: Zu Beginn der Gymnasialschulzeit wiesen die Spätlerner signifikant bessere schriftliche Deutschkenntnisse auf als die Frühlernenden, die bereits in der Primarschule in Deutsch, Englisch und Französisch unterrichtet worden waren. Die Spätlerner begannen den Fremdsprachenunterricht daher mit einer günstigeren Grundlage in der Schriftsprache. Wobei sich dieser Vorteil nach fünf Jahren bei der zweiten Datenerhebung nicht wiederfand.

 

Darüber hinaus korrelierte der Zusammenhang zwischen schriftlichen Deutsch- und Englischkenntnissen positiv und signifikant: «Wer gut im Deutsch ist, kann diesen Vorteil auf die Fremdsprache übertragen, völlig unabhängig vom Alter bei Lernbeginn oder vom biologischen Alter», fasst Simone Pfenninger zusammen. Die Studie zeige daher klar auf, dass der Faktor Alter für den Prozess des Fremdsprachenlernens nicht einzig auf ein möglichst frühes Alter zu Lernbeginn reduziert werden könne.

 

 

Literatur:

Pfenninger, Simone E. The Literacy Factor in the Optimal Age Debate: a 5-Year Longitudinal Study. International Journal of Bilingual Education and Bilingualism. December 10, 2014.

 

 


 

St. Galler Tagblatt, 21. September 2016



Frühenglisch – ein schulischer Leerlauf 



Seit gut zwei Jahren erleben wir eine erbitterte Debatte über den Fremdsprachenunterricht in der Primarschule. Der Zusammenhalt der Schweiz scheint auf dem Spiel zu stehen. Beim Frühfranzösisch hat die politische Auseinandersetzung zu einem regionalpolitischen Taktieren geführt; beim Frühenglisch geht die Angst um, in einer globalisierten Welt nicht mehr mithalten zu können. Es ist eine Auseinandersetzung unter Bildungspolitikern, Lehrern und Eltern. Und diese tun so, als ob Kinder beliebig lern und anpassungsfähig wären. Sind sie aber nicht. Die Sache ist aus linguistischer Sicht wesentlich komplizierter. Je früher Kinder eine fremde Sprache lernen, desto besser, heisst es. Stimmt. Aber nur, wenn sie die Sprache auf ihre Weise lernen dürfen, wenn die Sprache in ihren Alltag eingebettet ist, wenn die Kinder ausgedehnte Erfahrungen in einem ständigen sprachlichen Austausch mit Eltern und mit anderen Bezugspersonen machen können. Diese Art, eine fremde Sprache ganzheitlich zu erlernen, wird als synthetischer Spracherwerb bezeichnet. Er ist in den ersten Lebensjahren am stärksten, nimmt im Verlaufe der Schulzeit deutlich ab und erschöpft sich in der Pubertät weitgehend. An seine Stelle tritt der analytische Spracherwerb, wie er uns aus der Oberstufe wohlvertraut ist. Ein Spracherwerb also, der hauptsächlich im Auswendiglernen von Wörtern und im Erlernen von Grammatikregeln besteht. Doch bis zum Alter von zwölf Jahren sind Grammatikregeln – selbst im Deutschunterricht – erfahrungsgemäss ein Buch mit sieben Siegeln. Erst mit dem Einsetzen des abstrakten Denkens in der Oberstufe nimmt das bewusste Verständnis für die Gesetzmässigkeiten der Sprache zu. Damit setzt die Fähigkeit zum analytischen Spracherwerb ein. Kindern auf der Primarstufe eine Fremdsprache analytisch beibringen zu wollen, ist, so gesehen, ein pädagogischer Sündenfall. Frühenglisch und Frühfranzösisch konnten die Erwartungen, welche die Bildungspolitiker geweckt hatten, nie erfüllen. Berücksichtigt man die Kriterien für einen erfolgreichen Spracherwerb, war ein Scheitern unvermeidlich. Hier ein Wort, dort ein Reim, da ein Lied auf Englisch oder Französisch mag für die Kinder unterhaltend und anregend sein, sprachkompetent werden sie dabei nicht. Dafür ist der Fremdsprachenunterricht in der Primarschule mit seiner minimalen Stundendotation viel zu isoliert. Da kommen die Kinder auch mit der grössten Motivation auf keinen grünen Zweig. Es wäre deshalb höchste Zeit für das Eingeständnis, dass die Primarschule in den letzten zwölf Jahren einen kostspieligen und nicht kindgerechten pädagogischen Irrweg eingeschlagen hat. Doch, obwohl umfangreiche Studien und die Erfahrungen der Oberstufenlehrer längst gezeigt haben, dass die Frühlerner den Spätlernern sprachlich keineswegs überlegen sind, hält die Allianz aus Bildungspolitik, Verwaltung und Wissenschaft, aus Angst, ihr Gesicht zu verlieren, und befeuert durch enorme Mittel für die Umsetzung, am Frühfremdsprachenkonzept unbeirrt fest. Dabei wird selbst Elementares einfach verdrängt: so etwa die Tatsache, dass in der Deutschschweiz Aufwachsende zuerst die deutsche Hochsprache lernen müssen, bevor sie sich an die Wortformen und die Syntax einer Fremdsprache wagen können. Wer in der Muttersprache argumentieren, einen Text verstehen oder einen Aufsatz strukturieren kann, übertr.gt diesen Vorteil auf die Fremdsprache. Dagegen wird das Erlernen von Fremdsprachen ohne eine gewisse Sicherheit in der Muttersprache viel schwieriger. Es nützt wenig, wenn sich Kinder und Jugendliche in drei oder noch mehr Sprachen nur auf bescheidenstem Niveau ausdrücken können. Durch das Anwachsen der kritischen Datenmenge in jüngster Vergangenheit und den gleichzeitigen Mangel an Beweisen für die Langzeitwirkung von Frühenglisch und Frühfranzösisch scheinen die Nerven der Befürworter zunehmend blank zu liegen. Anders ist es nicht zu erklären, dass mahnende Stimmen häufig verspottet oder ihre Studien von EDK-Vertretern als «unwissenschaftlich» diffamiert werden. So geschehen mit der Zürcher Linguistin Simone Pfenninger, deren einziges «Vergehen» im Fazit ihrer aktuellsten Studie zum Fremdsprachenerwerb besteht, wonach man Englisch getrost in die Oberstufe verschieben kann. Nach ihr gilt ganz allgemein: Besser spät und intensiv als früh und halbbatzig. 

Mario Andreotti, Dozent für Neuere deutsche Literatur und Buchautor